RAUM­ANTHROPO­DYSMORPHIE

Raumanthropodysmorphie bezeichnet die Veränderung der Raumwahrnehmung von Menschen, die existentiell körperlich oder psychisch erkrankt sind. Der Begriff ist ein Neologismus, der sich aus dem deutschen Wort Raum, und den altgriechischen Worten und Silben anthropos, deutsch Mensch, dys, deutsch schlecht oder abweichend und morphe, deutsch Form oder Gestalt, zusammensetzt. Wir prägten den Begriff 2008, um den Ergebnissen einer qualitativen Studie zur Raumwahrnehmung von Frauen mit einer Brustkrebserkrankung zunächst einen Namen zu geben. Wir stellten damals fest: „Wenn der Körper erkrankt, erkrankt der Raum mit ihm“ (Vollmer, Koppen, 2010, Utz Verlag). Die Frauen erlebten, nachdem sie die Diagnose Krebs erhielten, ihre Umgebung plötzlich dunkler, enger und überfüllter als ihre gesunden Partner*innen.

Ein Erleben, das auch lange nach der Therapie anhielt und zu hohem Leidensdruck bei den Frauen führte. Nur jene, die über räumliche Veränderungen, von Umzug bis Wanddurchbrüche, berichteten, erlebten eine Erleichterung ihrer negativen Gefühle. Inzwischen sind unsere Beobachtungen quantitativ geprüft und wir wissen, dass nicht nur körperlich Kranke Wahrnehmungsveränderungen zeigen. Vielmehr ist es die Wahrnehmung des eigenen Körpers oder der eigenen Leiblichkeit, die sich im Zuge einer schweren Erkrankung verändert und sich als Veränderung des Raumes ausdrückt. Warum stehen Körper- und Raumwahrnehmung in so enger Verbindung? Hierzu gibt es mehrere Erklärungsmodelle, eines davon ist die Theorie der Raumanthropodysmorphie.

Inzwischen bezeichnet der Begriff das wissenschaftstheoretische Modell zur Erklärung der „Verformung des Raumes entlang der unbewusst erlebten Verformung des Körpers“. Im Buch Die Erkrankung des Raumes (Vollmer, Koppen, 2010) stellen wir das Modell erstmals vor. 2018 publizieren wir in einem Buchbeitrag (Vollmer, Koppen, 2018, Transcript Verlag) Teile der quantitativen Messungen zur stressinduzierten Veränderung der Architekturwahrnehmung chronisch und Schwerkranker. Während die Theorie der Raumanthropodysmorphi Wissenschaftler*innen hilft, „das tiefe schwarze Loch“, das viele Menschen kennen, ohne je hineingefallen zu sein, weiter zu erforschen, eröffnet es Architekt*innen ganz neue Möglichkeiten, Heilungs- und Gesundheitsfördernde Umwelten zu schaffen.

ARCHITEKTUR ALS 2TER KÖRPER

Architektur als 2ter Körper bezeichnet ein Architekturkonzept, das seine Wahrnehmungsqualität aus der des menschlichen Körpers ableitet. „Was, wenn morgen der kleinste Raum, den wir bewohnen, unser Körper, kein Schutz mehr bietet?“ (Vollmer, Koppen, 2010). Diese Frage stellen sich nicht nur Menschen mit einer körperlichen Erkrankung.

Wir alle kennen das Gefühl, von Zeit zu Zeit schutzlos ausgeliefert, dünnhäutig, verletzlich zu sein. In solchen Phasen, eine Umgebung vorzufinden, die uns ummantelt, Rückzug und Privatheit ermöglicht, ohne uns zu isolieren, verkörpert – in wörtlichstem Sinn – den Raum, den wir am intensivsten erfuhren: Den Mutterleib. Die Architektur als 2ter Körper leitet nicht die Morphologie, also Form und Gestalt, ihrer Gebäude aus dieser frühen Körper-Raum-Erfahrung ab sondern ihre Erlebnis- bzw. Wahrnehmungsqualität.

Wir prägten den Begriff 2010 als Titel einer niederländischen Veröffentlichung (Koppen, Vollmer, 2010, Layout 11) der Ergebnisse der landesweiten Studie zu Gestaltungsfaktoren von Universitätskliniken. In den über 300 geführten Interviews sprachen 80% der Befragten von „Körperverletzung“, wenn sie die Qualität einzelner Gebäudeabschnitte beschrieben. Heute verstehen wir, welche Gestaltungsfaktoren und Designkriterien diesen Eindruck verstärken und welche ihm entgegenwirken. Letztere nutzen wir für den Entwurf unsere Architektur als 2ter Körper.

FORM FOLLOW NEEDS

Form Follows Needs bezeichnet einen Architekturansatz, der die funktionalen Anforderungen an ein Gebäude den Bedürfnissen der Nutzer unterordnet bzw. ersteres aus letzterem ableitet. Für uns ist dieser Ansatz vor allem in der Entwurfslehre von großer Bedeutung (Vollmer, 2017, Braun Verlag), da er das vertiefte Verständnis der Mensch-Umwelt-Interaktion, das der Architekturpsychologie inne wohnt, voraussetzt.

Während wir anfangs meist vom „dringend notwendigen Paradigmenwechsel – von einer Bedarfsorientierten Architektur zu einer Bedürfnisorientierten -“ sprachen, fassen wir inzwischen diese Bestrebung in der Terminologie Form Follows Needs zusammen (Vollmer, 2020, Detail Verlag). Die Ausübung des Form Follows Needs Architekturansatzes ist nicht immer komplikationslos,

da sich Bedürfnisse im Laufe des Lebens verändern oder sogar widersprechen. Ein Gebäude, das meist mehrer Generationen überdauern muss, sollte dies berücksichtigen, ohne dabei allzusehr auf Flexibilität zu setzen und die Identifikation über den eindeutigen architektonischen Ausdruck zu verlieren.